Die Flucht zu meiner Mutters Heimat in Börnsen im Mai 1945

Meine Kindheit in Warnemünde
Geboren wurde ich am 9.9.1937 in Rostock, wohin mein Vater versetzt worden war; ich verlebte eine glückliche frühe Kindheit bis zum April 1942 in Warnemünde. Ab diesem Tag gab es immer häufiger Fliegeralarm, und die beiden Flugzeugwerke zwischen Rostock und Warnemünde (Heinkel und Arado) wurden regelmäßig bombardiert und zu Schutt und Asche gebombt. Wir mussten dann, meine Mutter, meine Schwester, 3 Jahre alt und ich, 5 Jahre alt, rennen, dass wir den Luftschutzbunker erreichten. Es war ein ganzes Ende bis zum Bunker zu laufen, und der Fliegeralarm kam immer erst sehr spät, weil die feindlichen Flugzeuge über die Ostsee geflogen kamen, und erst wenn sie die 12-Meilen-Zone erreicht hatten, geortet werden konnten. So ging es beinahe jeden Tag in den Jahren 1944 und 1945 sogar mehrmals am Tag.
Die letzte Fähre nach Warnemünde
Am 30. April 1945, als sich russische Truppen Rostock näherten, organisierte mein Vater (er war als Modell-Tischler bei Arado-Flugzeugbau tätig), für uns und unsere Nachbarin mit deren Tochter, 5 Jahre alt und einem Baby, noch keine 4 Wochen alt, einen Flug mit einem befreundeten Piloten nach Dänemark. Wir übernachteten im Heinkelwerk, und am nächsten Morgen um 6 Uhr sollte das Flugzeug nach Dänemark starten. Wir standen rechtzeitig auf, viel geschlafen hatten wir nicht in dieser Nacht, und als wir nach dem Piloten fragten, der uns mitnehmen sollte, hörten wir, dass er das Gelände bereits um 4 Uhr verlassen hatte. Die beiden Mütter waren verzweifelt. Schließlich sagte meine Mutter: „Wir müssen zurück nach Warnemünde, hier können wir nicht bleiben. Wenn die Russen uns hier erreichen, dann ist das unser Ende.“ Was passiert aber, wenn die Warnow-Fähre nicht mehr fährt? Was dann? Wir befanden uns auf der Ostseite der Warnow, Warnemünde lag auf der Westseite. Wir hatten noch ungefähr einen Kilometer zu laufen! Als wir endlich am Fährhafen an der Ostseite ankamen, wir konnten es kaum glauben, lag dort die Warnow-Fähre, und der Fährmann war noch selbst an Bord.
Viele, viele ganz große und auch viele kleine Schiffe und Fischerboote kamen aus Rostock und wollten raus auf die Ostsee. Schließlich fand der Fährmann eine kleine Lücke und wir konnten den Strom überqueren; (eigentlich hätte er Vorfahrt gehabt). Als meine Mutter den Fährmann fragte, wie lange er denn noch fahren müsse, bekam sie zur Antwort: „Diese Fahrt war die Letzte, ich will ja schließlich jetzt auch schnell nach Hause.“ Der Schock saß uns tief in den Knochen. Es war also die letzte Fähre gewesen, mit der wir die Warnow überquert hatten.
Wir beeilten uns am Bahnhof vorbei, um zum alten Strom zu kommen, als ich plötzlich auf der anderen Seite der Bahnhofsbrücke meinen Vater mit seinem Fahrrad entdeckte. Irgendwie hatte er erfahren, dass das Flugzeug, welches uns nach Dänemark bringen sollte, ohne uns abgeflogen war. Die Bahnhofsbrücke war der Platz, wo wir uns zuverlässig treffen würden, wenn es uns gelänge, nach Warnemünde zurück zu kommen. Unsere Eltern waren sehr froh, dass sie sich noch einmal besprechen konnten.
Abschied von Warnemünde
Am alten Strom lagen zwei Militärfregatten. Meine Eltern gingen zum ersten Schiff und fragten: „Wann fahren Sie ab und wohin, und würden Sie uns mitnehmen, zwei Frauen und vier Kinder?“ „Nach Flensburg, und so bald als möglich geht es los, wir sind aber voll mit Munition beladen. Es ist besser, Sie fragen bei der anderen Fregatte nach.“ Die am vorderen Platz liegende Fregatte hatte auch das Ziel Flensburg, und der erste Offizier sagte uns zu, dass wir mitfahren könnten. Meine Eltern besprachen sich noch schnell, dass mein Vater dann mit dem Fahrrad an der Ostseeküste entlang nach Lübeck fahren würde, um vom dortigen Flugplatz mit einem befreundeten Piloten nach Flensburg zu fliegen. Dort würden wir versuchen, uns zu treffen. Die ganze Angelegenheit war für meinen Vater allerdings sehr gefährlich, denn er machte sich damit zum Deserteur, (er war ja schließlich in der Kriegsindustrie tätig). Wir verabschiedeten uns von unserem Vater, und als wir die Fregatte betreten sollten, die uns nach Flensburg bringen sollte, strömten mindesten zwanzig Frauen und Kinder mit uns an Bord. Nun war das Deck dicht gefüllt mit Flüchtlingen. Das Schiff legte sofort ab und passierte den Alten Strom und die Warnemünder Mole. Ich lief ans Heck des Schiffes und blickte zurück auf mein geliebtes Warnemünde, auf den Alten Strom und auf den Leuchtturm, und meine Tränen flossen. Dieses Bild will ich nie, nie und nimmer vergessen! Als ich wieder bei meiner Mutter ankam, fragte sie: „Wo bist du denn nur gewesen?“ und ich antwortete: „Och, ich hab bloß nochmal den Leuchtturm angesehen."
Mit dem Schiff über die Ostsee
Es war ein wunderschöner sonniger Tag, dieser 1. Mai 1945, aber wir hörten von weiter weg das Dröhnen der anrückenden Panzer und das Donnern der Geschütze. Je weiter wir auf die Ostsee raus kamen desto mehr frischte der Wind auf. Meine Mutter fragte einen vorbeikommenden Marine-Soldaten nach der Windstärke und bekam zur Antwort: „ Zur Zeit noch sechs, aber der Wind wird noch auffrischen, und wir rechnen mit acht bis neun!“ Mit dem stärker werdenden Wind wurde es auch immer kühler. Die Matrosen verteilten Wolldecken an die Mütter und ordneten an, dass die Kinder unter Deck gehen müssen. In jede der Kojen kamen immer, je nach Alter, drei oder vier Kinder. Ich musste auch mit unter Deck. Neben unserer Koje war eine Tür, die zu der Käpitänskabine führte. Plötzlich kam ein Matrose, riss die Tür auf und rief in die Kabine: „Kommen Sie sofort hier raus, wir müssen hier kleine Kinder und Babys unterbringen.“ Die Antwort kam umgehend: „Was fällt Ihnen ein, ich bin schließlich der Gauleiter von Rostock, sie glauben doch wohl nicht, dass ich mich mit meiner Verlobten bei diesem Sturm ungeschützt an Deck begebe.“ „Sie verlassen sofort die Kabine, sonst hole ich mir Hilfe, und ich lasse Sie kielholen.“ Es kamen zwei weitere Matrosen zur Hilfe, und der Gauleiter von Rostock wurde mit seiner Verlobten aus der Kabine gedrängt und an Deck gebracht. Ich hörte noch, wie er den Matrosen zurief: „In Flensburg lasse ich Sie vor ein Kriegsgericht stellen, und dann werden Sie standrechtlich erschossen."
Seekrank
Unter Deck kroch ich zu meiner Schwester Giesela und unserer Nachbarstochter Elfi in die Koje, aber es wurde immer unerträglicher. Das Schiff schaukelte heftig, und viele Kinder hatten sich schon übergeben. Es stank entsetzlich. Ich konnte es nicht mehr ertragen und kletterte wieder nach oben an Deck. Meine Mutter war entsetzt, als sie mich kommen sah. Ich müsse wieder runter, versuchte sie mir klar zu machen, aber ich lehnte energisch ab. „Es riecht da unten so furchtbar nach Kotze, da gehe ich nicht wieder hin.“ Es wurde langsam dämmrig und kühler, und ich kuschelte mich mit unter die Wolldecke. Über uns hörten wir das Geräusch von Flugzeugen, als wir die Lübecker Bucht passierten. Waren es feindliche oder deutsche Flugzeuge? Gegen Mitternacht überholte uns ein größeres Schiff, bei unserem Schiff war der Motor nicht mehr zu hören. Die Matrosen schleppten dicke Trossen über das Deck, und wir sahen, wie das Schiff, das uns gerade überholt hatte, versuchte, uns auf den Haken zu nehmen. Schließlich gelang es auch. Ein Matrose erklärte uns, dass wir keine Angst haben müssen. Der Kapitän habe zwar gerade Maschinenschaden gemeldet, und wir lassen uns jetzt schleppen, denn hier sind so viele Seeminen im Wasser, die sind magnetisch, und wenn sie ein Schiff treffen, dann das Vordere, und wir kommen mit heiler Haut davon.
Ankunft in Flensburg
Endlich ging die Sonne auf, der Sturm hatte sich gelegt, es war Land in Sicht. Das schleppende Schiff koppelte sich ab, und wir hörten auch wieder den Motor unseres Schiffes. Es dauerte nicht mehr lange, und wir liefen im Flensburger Fjord ein. Das Schiff legte im Stadthafen an, und wir konnten von Bord gehen. Es waren schon viele Flüchtlinge in Flensburg. Militär-LKWs brachten uns nach einigen Stunden zum Flensburger Gymnasium, oben auf dem Hochufer, was inzwischen zu einer Flüchtlingsunterkunft umfunktioniert worden war. In den Klassenräumen fand kein Unterricht mehr statt. In allen Räumen lagen dicht bei dicht Strohsäcke auf den Fußböden. Unsere Nachbarin und meine Mutter suchten Plätze für uns, auf denen wir uns nach der anstrengenden Nacht etwas erholen sollten. Bald liefen meine Schwester Giesela, unser Nachbarskind und ich aber nach draußen, um die Gegend zu erkunden. Wir liefen um die Schule herum und sahen herab auf den Stadthafen und die Altstadt von Flensburg. Es war ein schöner Anblick von hier oben. Später verteilte das Rote Kreuz warme Suppe, wir waren inzwischen auch schon recht hungrig. Am Abend legten wir uns auf unsere Strohsäcke und versuchten zu schlafen. Die Ereignisse der letzten Nacht, mit der Vorstellung, unser Schiff könnte jeden Augenblick auf eine Wassermine laufen und explodieren, dann dieser fürchterliche Sturm, das alles steckte noch mächtig tief in unseren Knochen.
Fliegeralarm
Als wir gerade eben eingedöst waren, heulten die Sirenen: Fliegeralarm! Wir hatten den Klassenraum noch gar nicht richtig verlassen, rasselten auch schon die Bomben nieder. Wir kamen in einen provisorischen Kellerraum mit schmalen Bretterbänken. Ich saß neben meiner Mutter und neben meiner Schwester; neben ihr saß ein alter Mann. Es war beinahe dunkel in dem Raum, nur eine schwache Glühbirne hing an der Decke und brachte etwas Dämmerlicht. Plötzlich ein furchtbares Krachen. Das Licht war aus und eine Druckwelle erfasste uns, eine Wand neben mir krachte um, meine Schwester war von uns gerissen worden. Überall war Betonstaub, dann hörten wir meine Schwester weinen. Die umfallende Wand neben ihr hatte den alten Mann erschlagen, sie aber war noch am Leben, Gott sei Dank! Als meine Mutter meine Schwester wieder an der Hand hatte, versuchten wir, den Keller zu verlassen. Das war nicht einfach, von allen Seiten drängten Menschen, schließlich fanden wir den Weg nach draußen. Das Gymnasium hatte im Innenhof einen Arkadengang, unter dem wir Schutz suchten. Wir konnten sehen, wie die Bomben aus den Flugzeugen prasselten. Als es nach ca. 2 Stunden ruhiger wurde, ertönte aus einem Lautsprecher der Anfang eines damals sehr bekannten Marschliedes: „….und heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt.“ Nun folgte die Ansage, dass der Großadmiral Dönitz eine Rede halten werde. Er sprach wohl eine halbe Stunde und sein letzter Satz war: „Wir werden Deutschland verteidigen bis zum letzten Blutstropfen.“ Ich verstand das nicht, was wollte der mit meinem Blut???
Auf dem Weg ins nächste Dorf
Meine Mutter sagte zu unserer Nachbarin: „Hier können wir nicht bleiben, wir wollen uns lieber auf den Weg ins nächste Dorf machen.“ Nach einem kurzen Weg auf einer Landstraße sahen wir ein kleines Dorf, einen Kirchturm konnten wir nicht ausmachen im Morgengrauen, aber wir sahen einen Schlauchturm der Feuerwehr. Wir gingen auf diesen Turm zu. Neben dem Turm war ein großer Raum, in dem üblicherweise die Feuerwehr-Autos standen, aber jetzt war er voll belegt mit schlafenden Flüchtlingen, alles Frauen und Kinder. Nach einiger Zeit hatte meine Mutter einen älteren Mann ausfindig gemacht, den wir fragen konnten, ob wir hier wohl den Rest der Nacht verbringen könnten, seine Antwort war: „Was wollt Ihr hier, es ist doch alles voll hier, es ist kein Platz mehr für Euch, und wo kommt Ihr überhaupt her. Geht doch wieder hin, wo Ihr hergekommen seid." In diesem Augenblick hatte ich das Gefühl, als hätte mich der Blitz getroffen. Ja, wohin denn gehen, das ging doch gar nicht, das war doch unmöglich. Unserer Nachbarin mit ihrer Elfi und dem Baby Christel liefen die Tränen übers Gesicht. Mir kommt noch heute bei der Erinnerung die Galle hoch. Nun standen wir wieder auf der Straße. Zum Glück wusste meine Mutter sich zu helfen: „Wir gehen jetzt weiter in das nächste Dorf, und wenn wir ein Haus sehen, wo der Schornstein räuchert, dann klopfen wir dort an." Wir liefen noch beinahe eine Stunde über die Straßen, und unsere kleinen Beine machten es kaum noch mit. Unsere Nachbarin mit dem kleinen Baby war total erschöpft.
Mollig warme Federbetten
Endlich kamen wir in ein kleines Dorf und aus dem Schornstein eines Hauses stieg wahrhaftig Rauch auf. Als wir bei dem Haus ankamen, öffnete uns eine Frau die Tür. Meine Mutter berichtete, was uns passiert war, und sie antwortete: „Kommt schnell rein, wir haben uns gerade eine Tasse Kaffee gemacht (Muggefuk). Wir sind auch Flüchtlinge und sind hier aus Ostpreußen im Januar angekommen. Nun arbeiten wir hier beim Bauern und sollen gleich die Kühe melken. Die Betten sind noch warm, schnell mit den Kindern rein in die Puch.“ Meine Mutter zog uns schnell die Schuhe aus und dann hinein in die noch warmen Betten. Ich kann gar nicht beschreiben, was für ein wunderbares Gefühl es war. Diese mollig warmen Federbetten. Noch heute kann ich diesen Moment der Glückseligkeit nachfühlen. Wir schliefen tief und fest bis drei Uhr nachmittags. Meine Mutter war inzwischen nach Flensburg zurückgelaufen, um unseren Vater irgendwo zu treffen. Als sie in der Schule nachfragte, ob er sich dort gemeldet habe, sagte man ihr: „Ja, er war hier und hat nach Ihnen gefragt. Wir haben geantwortet, dass alle Flüchtlinge zum Bahnhof gebracht wurden, um weiter nach Dänemark zu kommen." Meine Mutter lief aufgeregt zum Bahnhof, aber ein Sonderzug mit Flüchtlingen war weit und breit nicht zu sehen. Sie war ziemlich verzweifelt, tröstete sich aber mit dem Gedanken, dass mein Vater ja wissen würde, dass wir versuchen würden, von Flensburg nach Lübeck oder Börnsen zu kommen. Wir blieben noch eine Nacht bei den freundlichen Frauen.
Richtung Süden
Als Mutter und Tochter am nächsten Morgen wieder um sechs Uhr zum Melken gingen, machten wir uns auch wieder auf den Weg in Richtung Süden. Es war ein anstrengender Marsch. Die Sonne schien vom Himmel, und es wurde immer wärmer. Wir schwitzten fürchterlich in unserer für die Jahreszeit viel zu warmen Bekleidung. Ich hatte meinen Ranzen zu tragen, darin waren ein Schwarzbrot, meine Puppe und ein Löffel. Meine Schwester trug einen kleinen selbst genähten Rucksack mit ein paar ihrer Schuhe, ihrer Puppe und auch einen Löffel. Es war so anstrengend zu laufen aber wir hatten ein Ziel: BÖRNSEN! Dem Baby unserer Nachbarin war es sicher auch zu warm. Es weinte die ganze Zeit. Schließlich nahm die Mutter das dicke Kissen aus dem Kinderwagen und deckte das Baby zu mit einer leichten Decke, die auf dem Kissen gelegen hatte. Nun kam das Baby zur Ruhe und schlief vor Erschöpfung ein. Wir besaßen keine Landkarte und keine Uhr, das Einzige, wonach wir uns richten konnten, war die Sonne, und die schien, aber viel zu warm.
Wir versuchten, die Richtung nach Süden einzuhalten. Wir trafen freundliche Menschen, die hilfsbereit waren und uns etwas zu Essen gaben, wenn wir darum baten, und wir trafen auch böse Menschen: Da war z.B. ein mittteljähriger Mann, der vor kurzem noch Soldat war, der alle Abzeichen von seiner Uniformjacke entfernt hatte. Er verlangte, ihm unsere Kinderkarre zu geben, mit der wir unser bescheidenes Gepäck transportierten. Er führte bedrohliche Reden gegen meine Mutter. Als sie ihn darauf aber als Deserteur bezeichnete und im anbot, ihn anzuzeigen, verschwand er aller schnellstens in entgegengesetzte Richtung. Gefährlich waren für uns die britischen Tiefflieger. Die Besatzung schoss auf alles, was sich bewegte. Hörten wir das Geräusch eines Flugzeuges, wussten wir: jetzt wird es bedrohlich. Wir sprangen ins Gebüsch oder in den Straßengraben und rührten uns nicht.
Brückensperrung
Endlich erreichten wir die Kanalbrücke in Rendsburg (heute ist an der gleichen Stelle ein Tunnel). Die Brücke war gesperrt und sollte gesprengt werden. Was sollte nun werden, wir mussten hinüber. Ein junger Soldat sprach uns an: „Wenn Sie nach drüben nach Österrönnfeld wollen, dann laufen Sie jetzt schnell rüber. Gleich folgt die Sprengung, die Engländer sind im Anmarsch." Meine Mutter nickte nur kurz und wir beeilten uns mächtig, schnell über die Brücke zu kommen. Es war später Nachmittag und unsere Nachbarin, Frau Knoop, wurde immer nervöser. Sie war total erschöpft und das Baby, Christel, total durchnässt. Die Stoffwindel konnte keine Feuchtigkeit mehr halten. Wir gingen zum nächstliegenden Bauernhof in Österrönnfeld und fragten nach der Möglichkeit einer Unterkunft. Die Antwort war: „Die Kühe sind schon auf der Weide, ihr könnt im Kuhstall bleiben." „Das geht gar nicht, wir haben ein Baby dabei, ein Neugeborenes, dessen Windel müssen wir waschen und trocknen.“ „Dann kann ich Euch die Knechtskammer anbieten. Der Knecht ist ja noch beim Militär, und wir haben lange nichts von ihm gehört."
Das Tortenbüfett
Am nächsten Morgen ging es weiter. Das Baby Christel hatte nun wieder trockene Windeln und schien sich im Kinderwagen wieder wohl zu fühlen. Gegen Mittag versuchten wir auf einem Bauernhof nahe der Straße etwas zum Essen zu bekommen. Wir hatten Glück, die freundliche Bauersfrau war bereit uns etwas zu geben. Plötzlich kam ihre Schwester angelaufen und rief: „Wir müssen weg, alle weg, die Engländer kommen.“ Wir wollten nicht mit. Die freundliche Bauersfrau führte uns in die Diele und zeigte uns ein herrliches Tortenbüfett, eine Torte schöner als die andere. Ihre Schwester hatte Geburtstag, aber zum Feiern war nun keine Gelegenheit mehr. „Wenn Ihr hierbleiben wollt, dann esst man die Torten, sonst werden die englischen Soldaten sie wohl nehmen.“ Von weitem hörte man nun schon die britischen Panzer anrollen. Die Bauersfrau sagte noch: „Wir gehen jetzt ins Moor, wo wir uns gut vor den Panzern verstecken können.“ Wir Kinder ließen uns das Angebot der Torten nicht entgehen, und unsere Mutter und die Nachbarin, Frau Knoop, bedienten sich auch. Die Bauersfrau hatte uns eine Stelle gezeigt, wo wir den Schlüssel verstecken sollten, wenn wir gingen, das machten wir dann auch so.
Begegnung mit den Engländern
Am sehr späten Nachmittag wurde das Dröhnen der Panzer immer mächtiger, dann war es so weit: die Panzer kamen uns unmittelbar auf der Straße entgegen. Die britischen Soldaten schauten aus ihren Luken heraus und waren wohl mehr als überrascht, dass ihnen zwei Frauen und kleine Kinder entgegenkamen. Es dauerte ziemlich lange, bis wir an dem mächtigen Tross vorbei waren. Getan hat uns niemand etwas. Am frühen Abend kamen wir an einem Dorfkrug vorbei, der von den Eigentümern verlassen worden war, auch aus Angst vor dem britischen Militär. Der Saal war voller Menschen, überwiegend Soldaten, die alle ihre Uniformen von „Abzeichen und Orden“ befreit hatten. Meine Mutter konnte uns in der Gaststätten-Küche noch eine Milchsuppe kochen, die kleine Christel wurde noch gestillt. Ich kann mir heute nicht vorstellen, dass sie davon satt werden konnte.
Wir machten uns am frühen Morgen des nächsten Tages wieder auf den Weg, immer in Richtung Süden. Frau Knoop machte einen ziemlich erschöpften Eindruck, ihr fiel das Laufen offensichtlich sehr schwer. Sie sprach sehr wenig und manchmal dachte ich, sie wolle etwas sagen, schwieg aber dann doch. Endlich war das Ortsschild von Bad Bramstedt vor uns. Bis zum Marktplatz war es nur noch eine kurze Strecke.
Ein Abschied
Viele, viele Menschen waren auf dem Marktplatz, sie saßen auf ihren Rucksäcken oder Gepäckstücken. Wir fragten die Leute, auf was sie denn warten würden und bekamen zur Antwort: „Hier sollen LKWs kommen, die uns weiterbringen." Frau Knoop sah meine Mutter verzweifelt an und sagte dann zu ihr: „Ich bin am Ende meiner Kraft, ich bleibe auch hier und werde warten.“ Meine Mutter war sehr erschrocken und sagte, dass man doch gar nicht wissen könne, ob wirklich Fahrzeuge kommen und wenn ja, wo bringen die uns dann hin? Wir wollen doch nach Börnsen. Frau Knoop erwiderte, dass sie am Ende ihrer Kraft sei und ob meine Mutter nicht mit mir und meiner Schwester den Weg allein weiter gehen könne, wir hätten ja ein festes Ziel, sie selbst wüsste ja sowieso nicht wohin sie solle. Wir waren alle sehr traurig, es war aber wohl nicht zu ändern, und so machten wir uns dann allein weiter auf den Weg; leicht ist uns der Entschluss nicht gefallen!
Coffee and milk
Am Ortsausgang, die Gegend war schon sehr dünn besiedelt, meinte meine Mutter: „Ich muss mal was trinken, ich habe fürchterlichen Durst, beim nächsten Haus fragen wir mal nach." Als wir in das Haus gingen, welches direkt neben uns war, eine alte Frau hatte uns hereingelassen, bat meine Mutter um ein Glas Wasser. Die Frau lehnte es ab, uns Wasser zu geben. „Gehen Sie doch ein Stück weiter an der Straße, dort ist ein Brunnen. Da können sie ja Wasser trinken." Meine Mutter war entsetzt und antwortete ihr, dass das doch sehr gefährlich sei, man könne ja an Typhus erkranken. Bevor die Frau uns rauslassen konnte, kam ein junger britischer Soldat mit einer Waffe im Anschlag herein. Wir erschraken, doch er sagte nur, indem er auf meine Mutter und sich zeigte: „Coffee, coffee“, und auf meine Schwester und mich: „Milk, milk!“ Die Frau sprang auf, holte eine gefüllte Tüte und eine Kaffeemühle aus dem Schrank und setzte einen Wasserkessel auf den Herd. Die Bohnen wurden gemahlen und der Kaffee wurde aufgegossen. Es war richtiger Bohnenkaffee, den es doch gar nicht zu kaufen gab!. Wo hatte sie den wohl her??? Meine Schwester und ich tranken unseren Becher Milch, der junge Soldat und meine Mutter den Bohnenkaffee, dann verließ der Soldat das Haus und wir auch. Wir konnten gerade noch hören, wie die Frau die Tür von innen verschloss. So etwas wollte sie wohl nicht noch einmal erleben.
36 Kilometer Fußmarsch an nur einem Tag!
Am Ortseingang von Bad Bramstedt hatte ich ein Schild gelesen, wie weit es nach Kaltenkirchen ist, von dort rechnete ich die Kilometer bis nach Henstedt-Ulzburg und bis nach Harksheide zusammen. Es waren 36 km (heute sind es durch Straßenveränderungen 30,2 km). Diese Strecke von Bad Bramstedt bis nach Harksheide haben wir an einem Tag zurückgelegt. Als wir endlich Harksheide erreichten, war die Sonne schon untergegangen. Die Straßen waren menschenleer. Meine Mutter hatte Sorge, eine Unterkunft für die Nacht zu finden. Niemand war weit und breit zu sehen, den man hätte fragen können, doch dann sahen wir einen älteren Mann, der vor seinem Haus stand. Meine Mutter sprach den Mann an und fragte, ob er eine Übernachtungsmöglichkeit für uns hätte. Er war sehr froh, uns für die Nacht aufnehmen zu können, denn er wohnte allein in dem kleinen Haus und fürchtete, dass britische Soldaten zum Plündern in sein Haus eindringen könnten. „Kommen sie nur rein. Ich habe Platz, hier können Sie über Nacht bleiben", war seine Antwort. „Morgen fährt auch noch ein Zug zum Hauptbahnhof nach Hamburg. Ich bringe Sie dann rechtzeitig zum Bahnhof Ochsenzoll. Aber jetzt essen wir erst einmal zusammen Abendbrot.“ Meine Schwester bekam eine Milchsuppe und ich ein Butterbrot (Margarine). Alle waren zufrieden: der alte Mann, dass er nicht allein in der Nacht im Haus bleiben musste und wir, dass wir ein Bett für die Nacht hatten.
Der letzte Zug
Am nächsten Morgen, nach dem Frühstück, brachte uns der Mann zum Bahnhof. Unterwegs zum Bahnhof sagte meine Schwester, dass sie in Harksheide ihren Löffel vergessen hatte, und meine Mutter antwortete, dass wir den Löffel nun nicht mehr holen können. Meine Schwester war sehr traurig.
Der Zug brachte uns tatsächlich zum Hauptbahnhof in Hamburg; die Menschen standen dicht gedrängt in dem Wagon, aber Hauptsache für uns war, dass wir überhaupt mitfahren konnten. Am Hauptbahnhof angekommen, konnten wir gleich umsteigen in den Zug nach Bergedorf. Auch dieser Zug war total überfüllt. Am Nordbahnhof in Bergedorf waren wir beinahe schon an unserem Ziel: „BÖRNSEN“.
Fünf Scheiben Karbonaden
Unser Weg führte uns durch die Alte Holstenstraße, vorbei an der Bergedorfer Kirche, durchs Sachsentor, zu der Zeit noch Fahrstraße, nämlich die F5. Schließlich kamen wir in die Holtenklinker Straße und hatten das Gefühl, die Straße wird immer länger. Unsere Füße wollten einfach nicht mehr laufen. Als die Holtenklinker Straße halb zu Ende war, kamen wir an zwei Läden der Konsumgenossenschaft Produktion, die PRO. Meine Mutter ging hinein in den Schlachterladen, den Schlachtermeister kannte sie schon aus ihrer Kindheit und Schulzeit, fragte ihn, ob ihr Elternhaus in Börnsen wohl noch stehe und er gab ihr zur Antwort, dass er letzte Woche noch in Börnsen gewesen sei, und dort sei alles in Ordnung bis auf ein Haus an der F5, das sei von einer Bombe getroffen worden. Meine Mutter schien erleichtert zu sein und sagte: „Dann brauche ich jetzt 5 Scheiben Karbonade.“ Der Schlachter schaute sie etwas verwundert an, denn Fleisch gab es nur auf Lebensmittelkarten, oder auch gar nicht! Der Schlachtermeister ging in einen hinteren Raum, kam mit einer verschlossenen Tüte wieder zurück, die er meiner Mutter in die Hand drückte. Als meine Mutter nach dem Preis fragte, sah er sie ganz strenge an und schüttelte beinahe unmerklich mit dem Kopf. Meine Mutter zuckte die Schultern, sagte ganz leise: „Danke!" und wir gingen aus dem Laden.
Die letzte Wegstrecke
Endlich waren wir am Holtenklinker Bahnhof angekommen. Züge fuhren nicht mehr. Meine Schwester Giesela sprang plötzlich zur Seite, warf sich an die Böschung des Chausseegrabens und rief: „Ich gehe nicht mehr weiter!“ Wir versuchten auf sie einzureden und ihr klar zu machen, dass wir doch beinahe am Ziel in Börnsen seien und nun nicht mehr viel laufen müssten. Es half alles nichts, sie wollte nicht mehr weiter.
Plötzlich kam ein Motorrad aus Richtung Bergedorf, es war Adolf von der Heide: Er war eine Börnsener Persönlichkeit. Er hatte in Bergedorf einen Fahrradladen und in Börnsen eine Werkstatt. Noch bis weit in die Siebziger Jahre kannten ihn alle Schulkinder von Börnsen, denn er reparierte ihnen allen immer wieder ihre Fahrräder umsonst oder gegen ein ganz kleines Taschengeld.
Adolf von der Heide fragte meine Mutter: „Emmi, wo kommt Ihr denn her, und was ist mit dem Kind, das da liegt?“ „Sie will und kann nicht mehr laufen", und er antwortete: „Setze sie auf mein Motorrad, ich bringe sie dann runter zum Horster Weg, zu deinem Vater.“ Als meine Schwester das hörte, sprang sie auf, warf sich bäuchlings auf die Gepäckstücke in der Kinderkarre und tat, als ob sie fest schliefe.
Endlich am Ziel – Milchsuppe und Bratkartoffeln
Schließlich waren wir in Börnsen und gingen den Horster Weg hinunter. Ich sah, wie mein Opa aus der Pforte kam und in Richtung Wiesen gehen wollte. Laut rief ich: „Opa, Opa! “, er hatte mich gehört, drehte sich nach uns um, und die Freude war für uns alle riesengroß, Tränen liefen uns allen übers Gesicht. Als wir ins Haus gingen, war da meine Tante Marie, und auch sie freute sich riesig, uns zu sehen. Die Familie hatte gerade Mittag gegessen und meine Tante meinte zu uns: „Jetzt koche ich erst einmal eine schöne Milchsuppe für euch.“ Meine Mutter und meine Schwester nickten, ich aber sprang auf und rief: „Keine Milchsuppe, bitte, bitte, keine Milchsuppe!“ Meine Tante fragte: „Warum denn keine Milchsuppe, was möchtest du denn essen?“ „Bratkartoffeln“ war meine Antwort, und das ist auch mein Lieblingsgericht geblieben.
Der Kalender damals zeigte für „heute“ das Datum: 8. Mai 1945 = Ende des zweiten Weltkrieges

Foto: Opas Haus am Horster Weg 22